An einem Novemberabend im Jahr 1980, es war kalt und finster, kurz vor Mitternacht, stiegen meine damalige Freundin Caro und ich auf mein Moped. Caro wie immer auf den Soziusplatz mit meinem Römerhelm auf dem Kopf. Wir hatten damals nicht genug Geld für einen zweiten Helm und mir war es wichtiger, sie geschützt zu wissen.
Unser Weg führte durch einen Wald bergab zu einem Ort am Rhein, wo sie bei ihren Eltern wohnte. Der Weg war nicht weit, nur 2 oder 3 Kilometer, und wir waren ihn schon oft gemeinsam zu Fuß gegangen, wenn ich sie abends nach Hause gebracht habe. Den Rückweg danach alleine habe ich gern in Kauf genommen, wusste ich doch, dass sie wohl behalten in ihrem zu Hause angekommen war.
Seit ich stolzer Besitzer der ZD 20, ein Moped von Zündapp mit Dreigang-Handschaltung war, mussten wir nicht mehr zu Fuß gehen, wenn das Geld für den Sprit reichte.
Wir fuhren los und als es im Leerlauf bergab ging, wurden wir immer schneller. Der Scheinwerfer, eigentlich nur eine Funzel mit einer Leuchtweite von wenigen Metern, half dabei, den zahlreichen Schlaglöchern auszuweichen.
Nach einer Kuppe, kurz bevor der eigentliche Wald begann, nahm das Gefälle und auch unsere Geschwindigkeit zu. Von links, von einer erhöhten Böschung her, nahm ich plötzlich eine Bewegung wahr. Eigentlich waren es mehrere Bewegungen. Ausgelöst von einer Rotte Wildsauen, die just in diesem Augenblick die Straße vor uns zu queren die Absicht hatte. Sie liefen hintereinander, nicht im Pulk.
Kaum zu glauben, wie viele Gedanken in einen einzigen Sekundenbruchteil passen. Bremsen ist zwecklos, dachte ich, da wir schon viel zu nah an den Hindernissen waren. Da zwischendurch, durch eine Lücke zwischen zwei Tieren, könnte klappen, dachte ich noch, bevor ich mich bäuchlings liegend auf dem Asphalt wieder fand. Es gibt keine Erinnerung an Geräusche, an ein Grunzen der Tiere, den Flug durch die Luft oder an einen Schrei meiner Freundin.
Etwas orientierungslos rappelte ich mich auf und ging bergan, etwa 12 Meter, zurück zur Unfallstelle.
Nachdem ich Caro aufgeholfen und sie mir versichert hatte, dass sie unverletzt sei, kam mir der Gedanke, dass das Moped und die Sau, die ich beide schemenhaft inmitten der Straße liegen sah, zur Seite geschafft werden mussten. Es war nicht stockdunkel, ein paar Sterne zwischen den Wolken beleuchteten diffus die Szene. Unmittelbar hinter der Straßenkuppe war eine Gefährdung für bergab fahrende Fahrzeuge nicht auszuschließen.
Die Zündapp in den Straßengraben zu schleifen war nicht das Problem. Doch die Sau wehrte sich dagegen. Als ich sie bei den Hinterbeinen packte und zu ziehen versuchte, rutschte ich mehrmals aus. Der Untergrund war glitschig. Das Schutzblech des Vorderrads hatte sich durch die Halsschlagader der Sau gebohrt und der vormals trockene Asphalt war nun nass und rutschig von ihrem Blut. Nach einigen Versuchen lag die Sau neben der Zündapp im Graben neben der Straße.
Zu Fuß machten wir uns auf den Weg zu Caros Elternhaus. Es war noch ein guter Kilometer zu laufen.
Unterwegs frug Caro mich, ob ich blind sei, weil ich den Kopf nach hinten in den Nacken legte. Meine genuschelte Antwort, dass das nicht der Fall sei, verstand sie erst nach mehreren Anläufen. Kaum zu glauben, wie oft man beim Sprechen mit der Zungenspitze an die vorderen oberen Schneidezähne stößt. Diese waren durch den Aufprall mit dem Gesicht auf dem Asphalt nach dem Flug von einigen Metern nicht abgebrochen, sondern unterhalb des Zahnfleischs vorne angebrochen und dann bis zur Wurzel nach oben gespalten. Sie steckten noch im Kiefer und in den Bruchspalten waren die Zahnnerven eingeklemmt. Das tat erst mal nicht weh. Nur beim Sprechen, wenn die Zungenspitze an die Zahninnenseiten stieß. Das war unangenehm.
Den Kopf hielt ich im Nacken, weil mein Schal, der Kälte bedingt, mehrfach um meinen Hals gewickelt war, am Kinn scheuerte. Durch den Aufprall auf den Asphalt hatte sich ein Stück der Haut vom Kinn gerubbelt und an der Fleischwunde scheuerte der Schal. Den Kopf nach hinten zu legen, half ein wenig gegen den Schmerz.
Nach einer Weile kamen wir bei Caros Elternhaus an. Sie klingelte und irgendwann öffnete ihre Mutter die Haustüre. Sie trug ein weißes Nachthemd. Nicht die Haustüre, die Mutter! Schlaftrunken drehte sie sich um, um wieder ins Bett zu gehen, als Caro irgendetwas sagte, das sie dazu brachte, ihren Blick auf uns zu richten. Als dieser auf mein Gesicht fiel, wurde sie so blass wie ihr Nachthemd. Sie brachte mich in ihr Badezimmer und als ich mein Gesicht im Spiegel erblickte, musste ich mich hinsetzen. Die Beine mochten nicht mehr. Da war eine Bank neben dem Waschbecken und das war gut so.
Ihr wisst sicher noch von Schulzeiten, wie ein abgenutzter Radiergummi aussieht.
Und rote Beete, die frisch gekocht über eine Küchenreibe gezogen wird.
Die linke Augenbraue hing, wie meine Oberlippe, in Fetzen herab. Die Nase war ein blutiger Klumpen und durch das Fleisch unter der Unterlippe schaute ein Stück Zahn. Der Kinnknochen lag frei.
In dieser geschützten Umgebung ging die Adrenalinzufuhr zurück und ich musste mich setzen.
Caros Mama rief den Dorfdoktor. Der kam auch gleich, ungefähr eine Stunde später und orderte ein Liegetaxi für mich. So ein weißes Fahrzeug mit roten Kreuzen auf der Karosserie und blauen Lichtern auf dem Dach. Bis das Taxi ankam, beschrieb ich nuschelnderweise dem Doktor, der zufällig auch der Jagdpächter des Reviers war, in dem ich unfreiwillig gewildert hatte, den Ort des Geschehens.
Noch in der selben Nacht barg er die Sau, mein Moped ließ er liegen.
Mein Vater, der in der Dorfmetzgerei als Metzger arbeitete, berichtete mir später, dass er die Bache am nächsten Tag ausnehmen durfte. Sie brachte 90 Kilogramm Schlachtgewicht auf die Waage und er meinte, wir, also Caro und ich, hätten Glück gehabt. Wäre die Schlagader eines der Überläufer betroffen gewesen, hätte die Bache ihre Jungen verteidigt.
Etwas frustriert waren wir beide, mein Vater und ich, dass dieser Dorf-Doktor-Jäger noch nicht mal eine Keule oder ein Stück Schulter an uns abgegeben hat. Wie ich später erfuhr, war die gesamte örtliche Jägerschaft schon seit geraumer Zeit hinter dieser Bache her und ihm, dem Doktor-Jäger wurde beim Stammtisch in der Dorfkneipe angeraten, den Jagdschein an mich abzugeben.
Ich war froh, dass Caro meinen Helm getragen hatte. Dieser wies an der Rückseite Zentimeter tiefe Schrammen auf. Sie ist wohl auf dem Rücken gelandet und mit dem Hinterkopf auf dem Asphalt aufgeschlagen.. Die Folgen für sie mochte ich mir nicht ausmalen, hätte ich den Helm getragen.
Viele Bilder aus dieser Nacht sind mir nicht mehr präsent. Weiße Scheinwerfer im OP-Saal, ein maskierter Arzt, der mit Nadel und Faden versucht hat, unfreiwillig voneinander getrennte Hautfetzen miteinander zu verbinden, Spritzen, durch die Betäubungsmittel injiziert wurde, das nicht wirkte, weil das Betäubungsmittel gleich wieder auslief.
Dann war da noch ein paar Tage später der Besuch mittels Liegendtransport bei einem Zahnarzt, der die abgebrochenen Schneidezähne zog. Seitdem habe ich eine Zahnarztphobie.
Zusätzlich diagnostiziert wurde eine gerissene Kiefergelenkkapsel und eine Prellung der Schulter.
Meine Lippen klebten aneinander. Die unglaublich lieben Krankenschwestern auf der Unfallstation pürierten mein Essen, so dass ich es mit einem Strohhalm durch eine Lücke im rechten Mundwinkel einsaugen konnte. Die Lücke war groß genug, dass auch eine Kippe dazwischen passte. Damals war rauchen im Krankenzimmer noch erlaubt. Die Ärzte und Schwestern rieten davon ab zu rauchen, weil das doch der Heilung entgegenstünde, aber ich war schon immer ein bisschen eigensinnig. Die einzige Lehre, die ich aus dieser Erfahrung gezogen habe, ich bin danach nie wieder ohne Helm und Schutzkleidung auf einem motorisierten Zweirad gefahren. Mein jeweiliger Sozius oder Sozia auch nicht. Das Motto, lieber schwitzen als bluten, hat mir bei den drei leichteren späteren Unfällen Schmerzen erspart. Egal, wie heiß es im Sommer ist, Schutzkleidung tut das, wonach sie benannt wurde. Sie schützt im Rahmen ihrer Möglichkeiten!